Ein Kind, zwei Familien: Wie habe ich das erlebt?

Ein Kind, zwei Familien: Wie habe ich das erlebt?

Info

Bereits 2018 erschien im BLICKPUNKT – einer Fachzeitschrift für Pflegeeltern – der Artikel mit dem Titel „Ein Kind, zwei Familien: Wie habe ich das erlebt?„. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin, möchten wir diesen Artikel auch auf unseren Seiten veröffentlichen. Wir finden diesen Artikel, der einen Erfahrungsbericht eines – heute erwachsenen – Pflegekindes darstellt, sehr lesenswert. Nochmals großes Lob an die Autorin für den tollen Text und vielen Dank für die Freigabe zur Veröffentlichung auf unseren Seiten.

Der Artikel

Mal gelingt es, mal nicht. Leibliche Eltern und Pflegeeltern sollten zum Wohle des Kindes gut zusammenarbeiten. Franziska Wendte ist als Pflegekind aufgewachsen und blickt auf diese Zeit zurück.

Ein Kind, zwei Familien. Das ist wohl das Schicksal, sobald man ein Pflegekind wird. Sicher, es hat auch Vorteile. Zweimal Weihnachten feiern, zweimal Ostern feiern, zweimal Geburtstag feiern und das heißt im Endeffekt: doppelt so viele Geschenke. Aber es ist viel mehr als das. Es kostet häufig sehr viel Kraft, zwischen zwei Parteien zu stehen. Und jedes Pflegekind hat seine eigene Geschichte. So auch ich.

Drachen statt Feen in der ersten Pflegefamilie.

Ich bin zusammen mit meinem jüngeren Halbbruder mit sechs Jahren in eine Pflegefamilie gekommen. Vorher waren wir in einer Bereitschaftspflegefamilie. Auch wenn ich damals noch sehr jung war, habe ich noch starke Erinnerungen an diese Zeit. Erinnerungen, die ich lieber vergessen möchte. Es war kein Zuhause. Das ältere Ehepaar wirkte wie zwei Drachen, die nur darauf warteten, alles mit ihrem Feuer einzuheizen. Ich dagegen hätte gute Feen gebraucht, die mir mit ihrem Glitzerstaub Geborgenheit schenken. Der einzige Halt in diesem Haus waren mein kleiner Bruder und das Mädchen in meinem Alter, welches ich am liebsten mitgenommen hätte, als meine heutigen Pflegeeltern mich abholten.

Meine Mutter war psychisch krank. Mein Vater hatte sich aus dem Staub gemacht. Sein Verschwinden prägt mich bis heute. So fiel ein Teil meiner leiblichen Familie schon mal weg, der Konflikte mit meinen Pflegeeltern hätte haben können. Zu Anfang nahm mich das sehr mit, heute weniger. Klar, manchmal belastet es mich immer noch. Aber dann denke ich an meinen Pflegevater, an meinen wahren Vater.

Das Verhältnis zwischen den Familien war zu Anfang schwierig, später innig und freundschaftlich. Meine Mutter sagte uns oft, dass sie froh sei, dass wir hier seien. Das gab mir die Sicherheit, meine Pflegeeltern genauso wie „echte“ Eltern lieben zu lernen. Klar gab es auch Enttäuschungen oder Konflikte. Häufig sprach ich nicht darüber, wenn mich etwas bedrückte. Ich bin von Natur aus konfliktscheu und harmoniebedürftig. Habe stets Angst, jemanden zu verletzen.

Zu meinen Freunden war ich sehr offen mit dem Thema. Ich schämte mich nicht, dass ich in einer Pflegefamilie wohnte, heute bin ich sogar stolz darauf. Denn sie sind ein Teil von mir und haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ohne sie wäre ich heute nie so mutig. Und wahrscheinlich wäre ich auch nie soweit gekommen, wie ich es nun bin.

Nicht jeder sollte von der Lebensgeschichte erfahren.

In der Regel erzählte ich es sehr früh, wenn ich merkte, daraus kann Freundschaft entstehen, diesen Menschen kann ich vertrauen. Es gab aber auch gute Bekannte, welchen ich es nicht erzählte. So zum Beispiel auch nicht der netten Arbeitskollegin im freiwilligen sozialen Jahr. Wahrscheinlich hielt ich es nicht für nötig. Oder ich hatte im Gespür, dass nach dem Jahr der Kontakt einschlafen würde.

Beide Familien gehören dazu.

Vor gar nicht langer Zeit haben sich mein Großvater und meine Mutter zerstritten. Ich konnte das zu Anfang überhaupt nicht verstehen. Meine Mutter erläuterte mir ihre Standpunkte und ich verstand, dass es eine Reaktion auf mehrere Ereignisse in der Vergangenheit war. Ab dann war klar, dass ich von nun an nicht nur zwischen zwei Stühlen stehen würde, sondern zwischen dreien. Der eine erzählte dies, der andere das. Was sollte man da noch glauben? Ich fühlte mich sehr genervt und auseinandergerissen. Jetzt sage ich mir, halte dich da raus. Seitdem sehen die kleinen Familienfeste anders aus. Ein Treffen mit meiner Mutter und ein Treffen mit dem Rest der Familie. Die Tatsache, dass ich seit September wegen meines Studiums ausgezogen bin und nun komplett woanders wohne, macht es nicht leichter. So bin ich in der Regel nur mal am Wochenende zu Besuch bei meinen Pflegeeltern. Wenn man studiert, heißt Wochenende aber nicht nur Freizeit. Und in dem Wochenende voller Arbeit fürs Studium muss man Freunde, Pflegefamilie und leibliche Familie unter einen Hut bringen. Das ist nicht leicht, und es gab des Öfteren schon Streit, besonders mit meiner leiblichen Mutter. Aber das ist schon okay. Ich habe schon so viel durchgemacht, dann schaffe ich das nun auch noch. Schließlich bin ich nun eine erwachsene Frau. Ich weiß, die Zukunft wird weiterhin böse und gute Überraschungen bereithalten. Und ich weiß, dass ich trotz der Schwierigkeiten weiterhin von meinen Familien begleitet werde. Denn auch, wenn ich mir manchmal zweigeteilt vorkomme, ist beides ein Teil von mir. Und ich möchte keinen Teil missen wollen.

Die Autorin

Franziska Wendte ist heute 25 Jahre alt und studiert Erziehungswissenschaften in Flensburg. Mit sechs Jahren kam sie in ihre Pflegefamilie in Heidgraben, mit der sie auch heute noch innig verbunden ist.

Mario Seeling

Mario Seeling ist ehrenamtlich im Vorstand der Nesteltern aktiv. Auf dieser Homepage ist er Admin, Autor und Ansprechpartner für alle Interessierten und Mitglieder. Wie alle anderen Vorstandsmitglieder, hat auch er selbst Pflegekinder und teilt seine mehrjährige Erfahrung gerne mit anderen.

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